Das tägliche Brot – ein Leben in Aussersihl

Louis Beringer ist an der Zwinglistrasse in einer Bäckerfamilie aufgewachsen. Heute ist er fünfundneunzig Jahre alt. Fast ein Jahrhundert später wohnen seine Frau Jeanette und er im Zürcher Säuliamt. In Louis Augen schimmern Freude und Neugierde auf den Besuch vom Tellhof aus dem Kreis vier, wo er den grössten Teil seines Lebens in jenem Haus, in dem sich heute die Bar Dante befindet, verbracht hat.  

Der Tisch ist weiss gedeckt, die Stimmung festlich. Jeanette hat alles für den Abend vorbereitet. Es gibt Chäschüechli mit Salat und zum Dessert ihre Apfelwähe – mit dem selbstgemachten Teig, wie schon immer. Die Hände können das im Schlaf und brauchen keine Waage dazu. Von Jeanette und Louis geht eine Wachheit aus, die vergessen lässt, dass sie auf ein langes Leben zurückblicken können.

Als kleiner Bub erlebte Louis das Aussersihl als Dorf. Das Leben war überschaubar – alles spielte sich im Quartier ab. Arbeiter und Handwerker hatten unterschiedliche Herkünfte, die Arbeit war für alle hart, man begegnete sich mit Respekt und Toleranz. Die vielen Kinder trieben sich auf der Zwinglistrasse herum, und spielten auf der Kasernenwiese Fussball. Um über den hohen Zaun des Militärgrundstücks zu klettern, musste man allen Mut aufbringen.

Der Krieg hat seine Spuren bei den zurückgekehrten Männern hinterlassen. Die ‹Süffel› gehörten ins Quartierbild. Die Buben sind den sogenannten ‹Ruschmanne› bis vor die Räuberhöhle nachgejagt. Davor sang Wäckerlin in seinem Rausch laut durch die Strassen: «Vive la France». An der Zwinglistrasse gab es zwei Schneidermeister, einen Schuhmacher, Metzger, Milch- und Käseladen und den Judenbäcker Eppstein, der sein Brot auf einem Zweiradwagen ausfuhr und dessen Sohn erfolgreicher Velofahrer war. Die offene Rennbahn in Oerlikon galt damals als beliebter Treffpunkt und die Fahrer waren Idole. 

Um die Jahrhundertwende, als sein Grossvater die Bäckerei erwarb, befindet sich das Quartier im Aufbau. Hinter den Gleisen entstehen Mietskasernen, die auf die wachsende Arbeiterschaft reagieren. In einer dieser neuen Blockrandbauten übernimmt sein Grossvater die Bäckerei an der Zwinglistrasse 22. Das Haus gehörte fortan der Familie Beringer. Die harte Arbeit in der Backstube spülte der Grossvater mit saurem Most herunter und starb vierzigjährig viel zu früh.

Mit zwanzig Jahren nahm der Vater das Gewicht des Familienunternehmens auf sich. Er war ein klassischer Patron und eine Respektsperson, ein harter aber gerechter Mann. Die Mutter von Louis war trotz aller Strenge sehr beliebt und geschätzt. Den Sohn hätte sie gerne als Pfarrer gesehen. Während dem Zweiten Weltkrieg – als ihr Mann an der Grenze war – führte sie alleine die Bäckerei und schlief nachts mit einem Revolver unter dem Kopfkissen, um sich im Notfall gegen die Drohungen aus der Nachbarschaft wehren zu können. Der Gemüsehändler war ein Sympathisant Hitlers. Er sagte zu Louis Mutter, dass Hitler sicher Einzug halten und ihre Familie als erste an die Wand stellen werde.

Damals war es üblich, nach der Lehrzeit das Handwerk in der Fremde zu erweitern. Dafür ging Louis für ein Jahr in die Romandie. Dort lernte er Jeanette kennen, die als Kellnerin in einem kleinen, verspiegelten Jugendstil-Kaffeehaus arbeitete. Er lieferte die Patisserie und das Gebäck. Sie gefielen einander und verliebten sich. Danach reiste Louis alleine nach Zürich zurück. Die Sehnsucht nach Jeanette blieb, das Wandtelefon durfte aber nicht zu lange gebraucht werden, da der Vater es für die hereinkommenden Bestellungen freihalten wollte.

Für die drei Kinder von Jeanette und Louis war das Spielen auf der Strasse aufgrund der Verkehrsdichte bereits nicht mehr möglich. Sie zogen sich in die miteinander verbunden Hinterhöfe zurück, die für ‹Räuber und Poli› geeignet waren. Zwischendurch stärkten sie sich im Keller heimlich mit Rosinen und Nüssen. Die Osterzeit war vor allem für die Kinder das schönste Fest im Jahr. Dann verwandelte sich die Bäckerei in ein Schokoladenparadies. Die Schokolade wurde in die Hasengussformen gegossen, und was herauslief und trocknete, blieb für die Kinder übrig.

Ausser drei bis vier Tage im Jahr war die Bäckerei täglich geöffnet. Die Gehilfen waren meist Italiener, seltener Spanier, einmal war sogar ein Japaner da. Einer der langjährigen Mitarbeiter, der seine Schicht um ein Uhr morgens begann, hatte mit einer Angestellten eine Liaison, obwohl er verheiratet war. Darüber wurde nicht gesprochen. 

Mit einem Blechwagen voll salzigem und süssem Gebäck fuhr jeweils ein Bäckergeselle zur ‹Znünizeit› an die Militärstrasse zum Lex Hof, um in der zehn Uhr Pause von Büro zu Büro zu gehen, und «der Beck ist da» zu rufen.

 

Jeanette und ihre Tochter erinnern sich gut an die besonders schöne Auslage von frischem Gemüse des Gemüsehändlers und natürlich an den italienischen Comestibles ‹Neri›, für den sogar die reichen Leute ins verrufene Aussersihl kamen. Auch Louis Augen beginnen zu leuchten, wenn er an sein allererstes Stück Pizza zurückdenkt.

Nach dem Leben im Kreis vier leben sie gern im Zürcher Säuliamt, wo die Eltern seinerzeit hingezogen sind, als es an der Zwinglistrasse 22 keinen Platz mehr für die ganze Familie gab. Auf dem Esstisch steht der Apfelkuchen. Er ist noch warm und verbreitet im ganzen Wohnzimmer den Geruch von frisch Gebackenem. Die Tochter macht den Teig genau gleich, und trotzdem schmeckt er nie so gut, wie jener von Jeanette.